Es gibt nette Vertreter. Die kommen bei einem vorbei, erzählen interessante Sachen, geben einem Argumente und vielleicht noch das eine oder andere Muster mit auf den Weg, fragen nach bestimmten Daten, manchmal kommt noch die eine oder andere Anekdote rüber, und anschließend gehen sie wieder. Es gibt schleimige Vertreter, nach deren Besuch man sich insgeheim eine Dusche wünscht. Es gibt kleingeistige Vertreter, die jeden Kunden nach Schema F behandeln, was meistens bedeutet, daß sie mit ihren Geschichten über die Historie ihres Unternehmens anfangen, obwohl man selbst schon seit Jahren in Kontakt mit dem Laden steht. Und es gibt penetrante Vertreter. Das sind die, die anscheinend beim ersten Anzeichen eines quer sitzenden Furzes an mich denken. Dann klingelt mein Telefon oder es klopft an der Tür und im Nu ist ein Pseudo-Gespräch im Gange, obwohl meine Geringfügigkeit nix braucht und die andere Geringfügigkeit nix zu sagen hat. Ist nicht schön, sich damit rumzuschlagen, gehört aber zum Berufsbild.
Ein besonders penetrantes Exemplar war der Herr Hoppe. Dieser war neu im Geschäft bzw. in der Region und sein Anliegen war, seinen Kundenstamm schnellstmöglich zu vergrößern. Daran hatte ich nichts auszusetzen. Allerdings machte er den Fehler, sich montags bei mir vorzustellen und seine Produkte anzupreisen, mittwochs nachzuhaken, ob sich mittlerweile schon etwas ergeben hätte, und freitags auf einen persönlichen Termin zu drängen, um uns endlich persönlich kennenzulernen und uns über meine Bedarfe zu unterhalten. Das läßt mich automatisch auf Distanz gehen. Normalerweise hätte ich ihm gesagt, wohin er sich einen persönlichen Termin stecken kann, denn Leute, die mir die Zeit stehlen, finde ich auch anderswo. Manko war allerdings das Thema: chemische Produkte. Diese wurden im Hause benötigt, aber mein Fachwissen reichte nicht aus, um einschätzen zu können, ob Herr Hoppe als Partner in Frage kam oder nicht. Aber man hat ja bekanntlich seine Leute, etwa im Bereich Forschung & Entwicklung.
"Hör mal, ich hab' hier einen heimlichen Helden, der uns Chemikalien verkaufen möchte. Der will vorbeikommen, und ich brauche jemanden, der die Bedarfe ein wenig umreißt. Nicht im Bereich Standard-Chemikalien, das krieg' ich hin, aber die Sonderabfüllungen und -mischungen, die ihr da hinten bei euch zusammenkippen laßt, sind mir ein bißchen zu heikel für eine ahnungslose Einkaufsentscheidung."
"Versteh' ich. Mach einen Termin aus, ich komm dazu und höre mir an, was er zu sagen hat. Nächsten Donnerstag oder Freitag sieht's gut aus, am liebsten vormittags."
Der Termin kam zustande.
Ich weiß nicht, wie ich an besagtem Freitag auf die Arbeit kam, ganz bestimmt aber unsicheren Fußes. Ein Schnee- und Eis-Chaos war über Nacht hereingebrochen und der Weg auf die Arbeit mittels Bus und zu Fuß glich einem äußerst abenteuerlichen, antarktischen Parcours. Dennoch stand wider Erwarten pünktlich um 10:00 Uhr Herr Hoppe im Empfangsbereich. Auf dem Weg ins Besprechungszimmer teilte er mit, er habe es bei diesem Wetter vorgezogen, mit Bahn und Taxi anzureisen. Alles im Dienste des Kunden. Na, so eine grenzenlose Freude. Während sich Herr Hoppe aus seinem Mantel schälte und plaudernd damit begann, seine Unterlagen auf dem Besprechungstisch auszubreiten, wandte ich mich zum Telefon, um meinem Kollegen Bescheid zu geben. Dabei wurde mir mitgeteilt, daß dieser im Schnee steckengeblieben sei und daher ein wenig später komme. Von dieser Auskunft ließ sich Herr Hoppe allerdings nicht bremsen.
"Jetzt bin ich schon mal da", meinte er, "da können wir uns auch über Ihre Bedarfe unterhalten."
"Das können wir machen", sagte ich. "aber mit mir haben Sie nur einen Ansprechpartner für das Kaufmännische und für Standard-Chemikalien. Von den anspruchsvolleren Geschichten lasse ich fachlich die Finger, in dem Thema steckt mein Kollege deutlich tiefer drin. Aber wir können ja schon mal mit den Kleinigkeiten anfangen, vielleicht kommt er gleich dazu."
Und so geschah es. Nun ja, fast so. Ich merkte sehr schnell, wie Herr Hoppe mir routiniert das Heft aus der Hand nahm und nach einem etwas schwammigen Vorgeplänkel meinen sicheren Boden verließ. Bereits nach zehn Minuten bewegten wir uns in Regionen, in denen ich nicht mehr mitreden konnte. Ich signalisierte ihm das, was ihn allerdings nicht davon abhielt, nach einem kurzen Schlenker wieder im Fachchinesisch zu landen. Es fielen Bezeichnungen von verschiedenen Projekten und Zusammensetzungen von Chemikalien, von denen ich weder vorher noch nachher etwas gehört hatte, und eine Menge Zusicherungen von Selbstverständlichkeiten, die von seiner Firma erbracht werden konnten. Nach zwanzig Minuten schaltete ich meine Ohren ab und zeigte nur noch durch belanglose Zwischenfragen, daß ich noch am Leben war. Ein sehr beliebter Nebensatz von Herrn Hoppe war "Klären Sie doch bitte ab, ob Sie [...] im Einsatz haben", was ich als Aufforderung verstand, mir ein paar Worte aufzuschreiben.
Es ging auf 11:00 Uhr zu, als der Redefluß des Herrn Hoppe versiegte. Mit der Geste des Gewinners packte er seine Infomaterialien wieder ein. Mein Kollege war nicht aufgetaucht. Und ich brauchte dringend einen Kaffee.
Ich fand noch einige Worte der Entschuldigung für den abgängigen Kollegen, was allerdings großmütig von Herrn Hoppe mit einem Blick nach draußen kommentiert wurde: "Bei dem Wetter ist das nur allzu verständlich. Ach, können Sie mir bitte ein Taxi rufen?"
Diesen Wunsch gab ich telefonisch an den Empfang weiter.
Die nächsten Minuten überbrückten wir mit ein paar Anmerkungen meinerseits, insbesondere zu den Arbeitsaufträgen, die ich mir mitgenommen hatte. Details, die noch zu klären waren, bevor Herr Hoppe ein Angebot unterbreiten konnte. Er kommentierte einzelne Punkte, anschließend gingen wir in den Empfangsbereich hinaus. Das Taxi war noch nicht da. Was mich nicht wunderte, denn draußen schneite es.
"Haben Sie ein Taxi gerufen?" fragte Herr Hoppe unsere Empfangsdame. Diese nickte.
"Wollen Sie die Informationen per Telefon?" wollte ich wissen.
"Gerne. Ansonsten komme ich gerne nochmal bei Ihnen vorbei. Vielleicht bei etwas besserem Wetter."
Dagegen hatte ich nach der Plattwalz-Aktion im Besprechungsraum zwar viel einzuwenden, sagte aber nichts. Man will es sich ja nicht mit einem potentiellen Lieferanten verscherzen.
Wir warteten einige Minute, wobei Herr Hoppe wiederholt seine Armbanduhr konsultierte und nochmals nachfragte, ob das Taxi auch tatsächlich bestellt worden wäre. Unsere Empfangsdame nickte.
Wiederum einige Zeit später trat ein abgewetzt wirkendes Männchen durch die Tür, ein Ausländer in einer stark mitgenommenen Daunenjacke, mit einer vom Schnee überzuckerten Schiebermütze und in einer Cord-Hose, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Er trat sich auf der Fußmatte den Schnee von den Schuhen und ging auf den Empfangsbereich zu.
"Ah, mein Taxi!" freute sich Herr Hoppe. "Können Sie mich zum Bahnhof fahren?" wandte er sich an den Neuankömmling.
Dieser reagierte eloquent mit hochgezogenen Augenbrauen: "Hä?"
Herr Hoppe rollte die Augen, beugte sich in Richtung Schiebermütze und forderte langsam und laut mit deutendem Zeigefinger: "Du! Fahre mich! Bahnhof! In Taxi!"
Das Männlein zeigte kein Zeichen des Verstehens.
Ich mischte mich ein.
"Ach, Herr Hoppe, darf ich Ihnen meinen Kollegen vorstellen, Herrn Dr. Ahmed Tirkayi. Wir waren mit ihm verabredet."
Daraufhin sah ich Herrn Hoppe erstmals still.
Ahmed ergriff die Initiative, zog seine Schiebermütze und schüttelte freudestrahlend die Hand von Herrn Hoppe.
"Ah! Herr Hoppe! Schönen Tag! Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, aber bei dem Wetter, Sie verstehen - freut mich, daß ich Sie noch treffe. Ich war letzte Woche auf Ihrer Homepage. Sehr interessant, sehr interessant. Aber ich hätte da noch einige Fragen. Haben Sie vielleicht noch etwas Zeit? Ist das Besprechungszimmer frei?"
Die letzte Frage war an mich gerichtet. Ich nickte, und wir drei kehrten in das Räumchen zurück.
Und dort zog Ahmed Herrn Hoppe mit einer an Sadismus grenzenden Freundlichkeit nach Strich und Faden die Hosen aus. Diesmal traf das Fachwissen eines Forschers auf das Know-How eines Verkäufers. Und ich sah, wie sich der Notizblock von Herrn Hoppe mit Arbeitsaufträgen füllte, erlebte, wie dieser einige Male nachhakte, um bestimmte Aussagen zu verstehen, und als Ahmed kurz nach 12:00 Uhr langsam zum Schluß kam, hatte ich den Eindruck, daß der Anzug von Herrn Hoppe durchgeschwitzt war. Ich dagegen war während der ganzen Zeit still, verhielt mich neutral und genoß die Show.
Ich ließ abermals ein Taxi rufen, als Herr Hoppe seine Sachen erneut zusammenpackte und im Anschluß wie ein Häuflein Elend in Richtung Empfang schlich, begleitet von sichtlich gut gelaunten Ahmed, der noch immer auf ihn einredete und dabei bemerkenswert beiläufig, aber zielsicher den Wissenslücken des Herrn Hoppe noch einige kleine Stiche auf den Weg gab.
Das Taxi war dieses Mal überraschend schnell vor Ort. Herr Hoppe verließ uns mit dem Versprechen, seine Hausaufgaben zu erledigen und schon montags ein Angebot zu übersenden, was von Ahmed mit einem breiten Lächeln und einem "Wir freuen uns schon darauf" quittiert wurde.
Als der weiße Wagen auf die ebenso weiße Straße fuhr, verschwand das Lächeln aus Ahmeds Gesicht.
"Was'n Arsch", meinte er.
"Hast mir den Tag gerettet, vielen Dank."
"Gern geschehen."
"Wie wär's mit 'nem Kaffee? Den guten Kaffee aus dem Hinterzimmer der Kantine, nicht die Plörre, die sie vorne am Tresen verkaufen. Geht auf mich."
"Nur, wenn er schön groß und stark ist."
"Zur Not geht auch ein zweiter auf mich."
"Worauf warten wir noch?"
Herr Hoppe schickte ein Angebot. Es kam zu zwei kleineren Verträgen über Standard-Chemikalien, aus dem Forschungs- und Entwicklungsbereich schien er sich allerdings rauszuhalten. Danach wurden seine Angebote seltener, zu einem zweiten Treffen kam es nicht mehr. Er wird seine Gründe gehabt haben.
Gruß
Skywise
P. S.: für A. T. (1966–2013).
P. P. S.: Sämtliche Namen natürlich geändert.