Am Samstag, dem 7. November 2009, fand in Sistig, dem im
Nationalpark Eifel gelegenen malerischen Wahlheimatdorf des Essayisten,
Lyrikers und Edition-YE-Herausgebers Theo Breuer eine lange Nacht der Lyrik
statt, die von den zahlreich erschienenen, aus nah und fern angereisten Gästen
im beinahe bis auf den letzten Platz besetzten kleinen, aber herausragend
bestückten privaten Kunstmuseum Krüger mit Begeisterung aufgenommen wurde.
Während des knapp dreistündigen Programms, eingeteilt in
zwei „Kapitel“ von jeweils vier bzw. fünf Sequenzen, die der Lautenspieler
Hans-Peter Peil mit stilvoll vorgetragenen Musikstücken der Renaissance
kongenial zu einer Einheit verband, bei dem die unterschiedlichsten
Temperamente und Tonarten deutscher Dichtkunst exemplarisch vorgestellt wurden,
führte Theo Breuer anhand 50 ausgewählter Gedichte von Walther von der
Vogelweide (im mittelhochdeutschen Original vorgetragen) über Johann Wolfgang
Goethe, Friedrich Hölderlin, Annette von Droste-Hülshoff, Georg Trakl
(„Grodek“), Jakob van Hoddis, Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn („Was schlimm
ist“), Paul Celan, Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Kling („Inhalator“), Axel
Kutsch („Feier des Wortes“, „Wegbeschreibung“), Markus Peters („altenheim
2060“) u.v.a. kenntnisreich, unterhaltsam und phasenweise zu Herzen gehend,
zumeist nah beim Publikum stehend, frei und entspannt sprechend durch die
abwechslungsreiche Geschichte der deutschen Lyrik, dabei beispielsweise die
wahnsinnige Wirkung dieser acht Verse von Jakob van Hoddis betonend:
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
Der als leidenschaftlicher Leser bekannte Breuer zeigte mit
einer lebendigen, den Eigenarten jedes einzelnen Gedichts durch eine äußerst
differenziert angelegte darstellerische Interpretation Rechnung tragend, wie
man ein Publikum stundenlang gut unterhält, durch spannungserzeugende Elemente
fesselt und fortlaufend stark beeindruckt: etwa als hektisch agierender
Zauberlehrling, der kniend die Geister anruft, als augenzwinkernder Kommentator
lyrischer Insider-Anekdoten oder als sich radikal dem Text unterwerfender,
eindringlich-ruhiger, jedes einzelne Wort in seiner Wirkung entfaltender
Rezitator der „Todesfuge“.
Auch dem nicht fachkundigen, jung und alt umfassenden
Publikum erschloß sich unmittel-bar, wie das Arrangement die Gedichte
zueinander in Beziehung treten und über die Jahre und Jahrhunderte ihrer
Entstehung hinweg miteinander korrespondieren ließ: Höhepunkt war dabei der
Vortrag der innerhalb einer Sequenz stehenden, aufeinanderfolgenden Gedichte
„Die schlesischen Weber“ von Heinrich Heine und „Todesfuge“ von Paul Celan,
deren rhythmische Übereinstimmung von „wir weben, wie weben“ und „wir trinken
und trinken“ frappierend ist.
Kurze Gastauftritte hatten der beispielsweise im Poetenladen
vertretene Berliner Autor und Filmemacher Rainer Komers, der die Präsentation
seiner Gedichte u.a. in die Schilderung einer nach Alaska führenden Reise
einbettete, sowie der im Westerwald lebende Lyriker Andreas Noga, der mit einer
hochamüsanten, lakonisch-verschmitzt vorgetragenen Gedichtmontage für
Lachsalven sorgte.
Eingebettet in das die verschiedensten Facetten
deutschsprachiger Lyrik vorstellende Programm war die Präsentation des
„deutschen Lyrikkalenders 2010“, aus dem Breuer genauso Gedichte ausgewählt
hatte wie aus Karl-Otto Conradys umfassender Gedichtsammlung „Der Große
Conrady“. Shafiq Naz, der unermüdliche Herausgeber des Lyrikkalenders (den er
seit 2005 nicht nur für den deutschen, sondern auch für den
angloameri-kanischen, französischen, italienischen und spanischen Sprachraum
ediert), der mit seiner Gattin, der Künstlerin Bilqis Naz, ebenfalls unter den
Gästen anzutreffen war, betonte im Gespräch im Anschluß an die Veranstaltung:
"It was a great event – congratulations to Theo Breuer and Jürgen and
Mechthild Krüger.“ Letztere verwöhnten in der Pause und nach dem Programm mit
Speis und Trank, so daß die Gäste sich wie zuhause fühlten und bis weit nach
Mitternacht über Lyrik und andere Dinge sprachen.
Auch Axel Kutsch („Das war wirklich eine rundum gelungene
Veranstaltung: Theo Breuers Vortrag, die Musik, das Ambiente – alles vom
Feinsten“) und Markus Peters, beide wie Noga und Breuer im als Tischkalender gestalteten
„Lyrikkalender 2010“ vertreten, schienen mehr als zufrieden mit dem Erlebten
und bewiesen durch ihre lange Anwesenheit, wie beeindruckt sie vom ganzen
künstlerisch-lyrischen Atmosphäre waren.
Karl Vermöhlen, der neue Sistiger SPD-Ortsvorsteher und
stellvertretende Bürgermeister der Gemeinde Kall, der mit Gattin Sigrid der
Einladung gern gefolgt war und zum erstenmal überhaupt einer Lyrikveranstaltung
beiwohnte, war schier überwältigt ob der Macht, die die lyrischen Wörter auf
ihn ausübten. Wie er bediente sich die Mehrzahl der Gäste im Anschluß an den
beiden Büchertischen, wo sie Titel wie „Der deutschen Lyrikkalender“, „Aus dem
Hinterland. Lyrik nach 2000“, „Nacht Schicht“ oder „Wortlos und andere
Gedichte“ erstanden.
Der Verfasser dieser Zeilen gehörte – wie die bereits
erwähnten Autoren und Herausgeber oder die in Mülheim an der Ruhr und Berlin
lebende japanische Künstlerin Inoue Hiroko – zu den Gästen, die bis zu 200
Kilometer angereist waren, um an einem außergewöhnlichen Lyrikabend im Herzen
der Eifel teilzunehmen, und weit nach Mitternacht die Besucher beneidete, die,
wie alle offensichtlich beseelt und zufrieden, zu Fuß nach Hause gehen konnten.
Dieser mit langanhaltendem Beifall beendete, eintrittfreie
Lyrikabend am 7. November 2009 in Sistig/Eifel, der eindrucksvoll belegt, wie
lebendig Literatur im kulturell zumeist unter Ausschluß der Öffentlichkeit
wirkenden Hinterland gelebt wird (der ebenfalls in der Eifelgemeinde Kall
lebende Norbert Scheuer hat mit „Überm Rauschen“ als Finalist beim Buchpreis
2009 allerdings für einigen Wirbel im bundesdeutschen Blätterwald gesorgt), ist
laut Auskunft der Gastgeber Auftakt zu der künftig wenigstens einmal im Jahr
stattfinden-den „Lyrik im kleinen Kreis". Man habe mit Theo Breuer bereits
entsprechende Vorgespräche geführt. Ein gelungener Auftakt, der so richtig Lust
auf Lyrik macht – weit über den Abend hinaus.
In der Bedeutung des Lehnworts aus dem Französischen, wo der "amateur d' art" den kenntnisreichen, enthusiastischen Liebhaber der Künste meint, bin ich ein Dilettant.