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Sonntag, 5. Juli 2009, 18:16

Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde

Michael Greenberg
Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde (Lagato)
[isbn]393895664X[/isbn]

gelesen von Olaf Pessler

Wie reagiert man, wenn man unvermittelt in der Fußgängerzone von einem Mädchen an den Schultern gepackt und kräftig durchgeschüttelt wird, während es einem ins Gesicht schreit, daß wir alle von Geburt an Genies seien und allein die Gesellschaft dafür sorge, daß wir das nicht blieben? Losschütteln und abhauen? "Bist du auf Drogen?" oder "Laß dich mal untersuchen, Mädel!" rufen? Michael Greenberg dürfte sich in etwa dasselbe gedacht haben, allerdings hat die Sache da einen kleinen Haken: die Person, die sich so aufführt, ist seine 15jährige Tochter Sally. Von einem Tag auf den anderen ist sie wie ausgewechselt, greift sogar ihren Vater tätlich an, so daß dieser sie schlußendlich in eine psychiatrische Klinik einweist. Die folgenden Wochen werden für ihn und seine Familie zu einer Belastungsprobe.

Michael Greenberg ist Berufsautor, insbesondere von Sachbüchern, und das merkt man auch. Einerseits an der recht beiläufig wirkenden, nie belehrenden Art, mit der er Erläuterungen oder Definitionen in seinen Bericht einbaut, andererseits an seinem etwas "unterkühlt" wirkenden Schreibstil. Er ist darüber hinaus kein besonders fantasiebegabter Autor, der mit herausragenden sprachlichen Mitteln arbeitet, wohl aber ein feiner Beobachter, und noch dazu jemand, der im gegebenen Fall vor allem aufrichtig sein möchte, selbst wenn er persönlich dadurch nicht im besten Licht dastehen sollte. So gelingt es ihm sehr geschickt, viele der ersten Anzeichen für die manisch-depressive Psychose seiner Tochter zwar darzustellen, aber eben mit schlüssigen Argumenten zu "überschreiben", sie so wirken zu lassen, als seien sie Teil ihrer Entwicklung - weil er selbst in jener Zeit so dachte. Ebenso gelingt es ihm auch, die eigene innere Zerrissenheit oder Hilflosigkeit ausgezeichnet darzustellen, indem er seine Entscheidungen und Handlungen zwar einerseits begründet, andererseits innerhalb weniger Sätze schon wieder in Frage stellt oder sie resümierend kommentiert. Die Familie bzw. die Reaktion der einzelnen Mitglieder auf Sallys Krankheit nimmt eine zentrale Rolle in diesem Bericht ein. Die Hilflosigkeit ist bei allen spürbar, ebenso wie die (nicht nur Selbst-)vorwürfe. Michael Greenberg scheint vor allem von der Art und Weise fasziniert zu sein, mit der die einzelnen Familienmitglieder die Ereignisse verarbeiten, wobei der Autor zwar nicht durch direkte Kommentare, sehr wohl aber durch seinen Schreibtsil vermittelt, was er von der einen oder anderen Vorgehensweise hält. Sally selbst gerät dabei jedoch bedauerlicherweise ein wenig ins Hintertreffen - zwar ist sie allgegenwärtig, da immerhin ihr Zusammenbruch erst zu dieser Situation geführt hat, allerdings befindet sie sich in diesem Bericht in erster Linie aufgrund ihrer Erkrankung und der damit zusammenhängenden Behandlung außerhalb des Familienkreises, größtenteils sogar außerhalb der Wahrnehmung des Autors. Nach der Entlassung konzentriert sich Greenberg bei der Beschreibung seiner Tochter auf Sallys Ängste, wieder in die Schule zurückzukehren, und auf Situationen, die eigentlich den normalen Alltag einer Familie unterstreichen, nicht aber eventuelle Nachwirkungen in ihrem Verhalten, Nebenwirkungen der Medikamente, Überbleibsel ihres Zusammenbruchs oder Ähnliches.
Es ist schon harter Stoff, der einem hier geboten wird, immerhin lädt einen ein Familienvater dazu ein, Zeuge zu werden, wie sein Leben langsam aus den Fugen zu geraten droht. Das Buch ist weit davon entfernt, permanent auf die Tränendrüse zu drücken oder sich am Rand des Kitschs zu bewegen – es gibt sogar einige Stellen, an denen sich der Humor der Betroffenen zeigt, selbst wenn es sich dabei teilweise um Galgenhumor handelt. „Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde“ soll ein ehrliches Buch sein, eventuell eine Hilfestellung für andere, die Ähnliches durchmachen und sich – ebenso wie der Autor damals – einen Erfahrungsbericht wünschen, denn wie er selbst festgestellt hat, gehen sich die Angehörigen der Betroffenen in der Psychiatrie eher aus dem Weg und versuchen, „nicht zu neugierig zu sein“. Er macht einem nichts vor, beschreibt die Probleme, die auf die Familie zukommen ausgesprochen offen und führt an einigen Stellen des Berichts aus, daß eine Psychose eine Krankheit ist, die immer wieder ausbrechen kann.

Olaf Pessler ist als Sprecher für dieses Hörbuch eine gute Wahl. Er hält sich über weite Strecken an den ziemlich nüchternen, fast dokumentarischen Ton des Berichts und weicht höchstens dann davon ab, wenn aus dem Text eindeutig hervorgeht, wie ein bestimmter Satz gesprochen wurde oder wie die gegenwärtige Verfassung der sprechenden Person ist. Nie versucht er, mehr aus dem Text herauszuholen, als eigentlich drin steht. Diese nüchterne Art läßt zwar einige Szenen bizarr und unrealistisch wirken, was aber irgendwie doch wieder zum Thema paßt und die Hilflosigkeit des Autors noch unterstreicht.

Ein Erfahrungsbericht, weitab von anderen Erfahrungsberichten wie "Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen" oder den kritischen Untertönen von "Einer flog übers Kuckucksnest". Es ist ein ehrlicher, nüchterner und nachdenklicher Bericht geworden, der von einem passend zurückhaltenden Olaf Pessler eindrucksvoll gelesen wird.

Gruß
Skywise
Radio Liederlicht
Liedermacher & Co.


Mittwoch.
Skywise: "Ja klar ist der Laden super und so, aber ich mach' da trotzdem einen Bogen drum, denn allein für's Umschauen muß man da schon den großen Geldbeutel dabei haben."
Kollegin: "Ach was, das geht auch ohne. Mit EC-Karte zum Beispiel."