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Matze

Fortgeschrittener

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Freitag, 6. November 2009, 11:18

Jeden Tag ist eine Freude garantiert!

Lyrikkalender, das erinnert an die Abreißkalender, die in den 1960er
Jahren verteilt wurden. Jeder Tag wurde zur geistigen Erbauung mit
einem Sinnspruch belegt.



Welche freudige Überraschung jedoch, als ich den Tischkalender des
Verlegers Shafiq Naz von Alhambra Publishing in die Hand bekam:



„Lieben Sie Gedichte?“ spricht mich der Verlag auf der stabilen
Rückseite des hervorragend aufgemachten Kalenders an – und antwortet
umgehend, da der Verleger meine Antwort anscheinend zu kennen scheint:
Wir auch! – stillschweigend voraussetzend, daß Sie naturgemäß Gedichte
schätzen und lieben. Denn welcher Mensch liebt nicht die Sprache der
Lyrik, die ihn doch lebenslang in allen lustigen und allen unheilvollen
Lebenslagen begleitet, die ihn ständig umgarnt und umgibt: die Sprache
der Lieder und Songs, die Sprache der Vögel und Vierbeiner, die
Alltagssprache der Stuben und Straßen, die Sprache der Küchengeräte und
Autos, die Sprache der Sterne und Wolken, die eigene, die fremde
Sprache des Scherzes, des Schmerzes (nicht zu vergessen die vielen
Fachsprachen) – alle voll von schier unendlichen Alliterationen und
phantastischen Metaphern, angereichert mit gekreuzten und gepaarten
Reimen, lautmalenden, knirschenden Wörtern, wie ich an anderer Stelle
über den Kalender lese.



Mein Problem beginnt damit, daß sich die gebotene Vielfalt kaum
würdigen läßt. Damit stehe ich nicht allein da, kompetente Buchkritiken
werden durch geschmäcklerische Literaturtipps ersetzt. Die seriöse
Buchauswahl verschwindet, stattdessen wird alles zur Geschmacksfrage
degradiert. Der Markt beeinflusst die Wahl, bestimmt die Vorlieben und
etabliert Werte. Selbst wenn Besprechungen nett gemeint sind, steht
darin immer etwas, das erkennen läßt, daß nicht begriffen wurde, was
die Autoren bei der Schreibarbeit tatsächlich beschäftigt hat. In den
seltensten Fällen wird die ursprüngliche Aufgabe des Kritikers noch
befolgt, über Literatur zu schreiben, bevor man sie beurteilt.

Wenn man jemanden hervorhebt, benachteiligt man den Einen oder die
Andere. Daher ein subjektiver Hinweis auf meine Lieblingsgedichte. Der
Lyrikers Axel Kutsch verknüpft Assoziationen zu einem
Bewußtseinsvorgang, der zwischen den Zeiten vermittelt, das Vergangene
hervorholt, Träume realisiert und so Gedanken ins Sprachbild bringt. Es
ist diese offene Form des Schreibens, die ihn immer am meisten
interessiert hat. Eine offene Form, die sich selbst bildet. Kutsch
entwirft das Bild einer chaotischen Welt, aus der einen keine
Geschichtsphilosophie, Meta-Erzählung oder Religion retten kann und
feiert in seinen Gedichten gerade deshalb die Freiheit des Einzelnen:



Manchmal traten wir

auf die Bremse der Erinnerung

Aus der Distanz sahen wir

rosafarbene Bilder,

überbelichte und ein wenig verwackelt

Die Bärte der Revolution

waren inzwischen grau geworden,

Die Gesichter erschöpft

wie die Landschaft.

Durch das Vergrößerungsglas der Metaphern

Blickten wird zu den Sternen

Den funkelnden Augen der Metaphysik

(zu finden am 15. Dezember)



Souverän knüpft Theo Breuer an die literarischen Avantgarden des 20.
Jahrhunderts, stellvertretend sei „verinnerung an oskar p.“ genannt.
Was im Lehrbuch steht, ist nur ein Ausschnitt aus der
Literaturgeschichte. Lyrische Figuren haben ihr eigenes Leben, auch
ihre eigene Vorgeschichte. Sie schwingt mit in den Zeilen, grundiert
die Handlungen. Theo Breuer komplettiert seine Vorstellung von der
lyrischen Moderne. Er entwirft, basierend auf der Literaturgeschichte,
eine Art von Lyrik, die über diese literarischen Vorlagen hinausreicht.
Die große Gabe von Theo Breuer ist es, das, was man liest, wie soeben
geschehen aussehen zu lassen. Immer wieder gibt es diese Momente in
seiner Lyrik, Szenen, die sich im Gedächtnis festsetzen, die nicht
verlierbar sind – eine Art Triumph der Literatur.



wortlos



zwei wörter irren unbegrenzterweile

(lassen zwanglos unflektiert sich treiben

wollen nichts als sich am andren wort bloß reiben)

zwecklos durch die krüppelige zeile



ursprünglich ist es – unverfälschtes schnuppern

berühren blicken ballen schweifen

das eine kriegt (natürlich) einen steifen

fängt dicht zu drängen an zu ... tuppern



das andere fällt rasch auf seinen rücken

nur so (ahnen sie) kann die begattung glücken –

die da wortwörtlich beieinander liegen



(zwei kryptomere einsilbige verben)

träumen wie sie ungereimt durch verse fliegen

da greift der dichter ein [sie sterben]





A.J. Weigoni gehört zu den meistunterschätzten Lyrikern, sein Schaffen
erzeugt eine Poesie, die von der Rezeption das Äußerste an
Selbstpreisgabe verlangt. Oft wird im Literaturbetrieb übersehen, daß
gerade aus solcher Herausforderung die Subjektivität des– oder
derjenigen, der oder die sich auf diese Kunstwerke eingelassen hat,
sich auf Dauer verändert – die Wahrnehmungsfähigkeit, die Weltsicht,
das Zulassen von Gefühlen.



As dime goes buy



Rick's café americain

ist zu weit weg

um dort Stammgast zu sein

nur manchmal

in den Træumen

koennen wir dort sein

um beim endlos kreiselnden Ventilator

einige Klavierklænge

zu hoeren

die Sam

immer noch spielt



Geschenkempfehlungen abzugeben ist nicht meine Sache nicht. Hier aber
geht es um mehr, ein Geschenk, daß man sich mit der Lektüre jeden Tag
machen. Man sollte mit Superlativen vorsichtig sein, aber in Bezug auf
die Lyrik ist es so: Wir leben geistig in ganz guten Zeiten, so
aufregend war deutsche Lyrik seit dem Barock nicht mehr.



[ Info ] Naz, Shafiq: Lyrikkalender 2010. Alhambra Publishing, B-Bertem 2009.
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In der Bedeutung des Lehnworts aus dem Französischen, wo der "amateur d' art" den kenntnisreichen, enthusiastischen Liebhaber der Künste meint, bin ich ein Dilettant.

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Sonntag, 8. November 2009, 20:38

Große Lyrik im kleinen Kreis: Eine gelungene Feier des Wortes

Am Samstag, dem 7. November 2009, fand in Sistig, dem im
Nationalpark Eifel gelegenen malerischen Wahlheimatdorf des Essayisten,
Lyrikers und Edition-YE-Herausgebers Theo Breuer eine lange Nacht der Lyrik
statt, die von den zahlreich erschienenen, aus nah und fern angereisten Gästen
im beinahe bis auf den letzten Platz besetzten kleinen, aber herausragend
bestückten privaten Kunstmuseum Krüger mit Begeisterung aufgenommen wurde.








Während des knapp dreistündigen Programms, eingeteilt in
zwei „Kapitel“ von jeweils vier bzw. fünf Sequenzen, die der Lautenspieler
Hans-Peter Peil mit stilvoll vorgetragenen Musikstücken der Renaissance
kongenial zu einer Einheit verband, bei dem die unterschiedlichsten
Temperamente und Tonarten deutscher Dichtkunst exemplarisch vorgestellt wurden,
führte Theo Breuer anhand 50 ausgewählter Gedichte von Walther von der
Vogelweide (im mittelhochdeutschen Original vorgetragen) über Johann Wolfgang
Goethe, Friedrich Hölderlin, Annette von Droste-Hülshoff, Georg Trakl
(„Grodek“), Jakob van Hoddis, Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn („Was schlimm
ist“), Paul Celan, Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Kling („Inhalator“), Axel
Kutsch („Feier des Wortes“, „Wegbeschreibung“), Markus Peters („altenheim
2060“) u.v.a. kenntnisreich, unterhaltsam und phasenweise zu Herzen gehend,
zumeist nah beim Publikum stehend, frei und entspannt sprechend durch die
abwechslungsreiche Geschichte der deutschen Lyrik, dabei beispielsweise die
wahnsinnige Wirkung dieser acht Verse von Jakob van Hoddis betonend:





Weltende





Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,


In allen Lüften hallt es wie Geschrei.


Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,


Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.





Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen


An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.


Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.


Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.





Der als leidenschaftlicher Leser bekannte Breuer zeigte mit
einer lebendigen, den Eigenarten jedes einzelnen Gedichts durch eine äußerst
differenziert angelegte darstellerische Interpretation Rechnung tragend, wie
man ein Publikum stundenlang gut unterhält, durch spannungserzeugende Elemente
fesselt und fortlaufend stark beeindruckt: etwa als hektisch agierender
Zauberlehrling, der kniend die Geister anruft, als augenzwinkernder Kommentator
lyrischer Insider-Anekdoten oder als sich radikal dem Text unterwerfender,
eindringlich-ruhiger, jedes einzelne Wort in seiner Wirkung entfaltender
Rezitator der „Todesfuge“.





Auch dem nicht fachkundigen, jung und alt umfassenden
Publikum erschloß sich unmittel-bar, wie das Arrangement die Gedichte
zueinander in Beziehung treten und über die Jahre und Jahrhunderte ihrer
Entstehung hinweg miteinander korrespondieren ließ: Höhepunkt war dabei der
Vortrag der innerhalb einer Sequenz stehenden, aufeinanderfolgenden Gedichte
„Die schlesischen Weber“ von Heinrich Heine und „Todesfuge“ von Paul Celan,
deren rhythmische Übereinstimmung von „wir weben, wie weben“ und „wir trinken
und trinken“ frappierend ist.





Kurze Gastauftritte hatten der beispielsweise im Poetenladen
vertretene Berliner Autor und Filmemacher Rainer Komers, der die Präsentation
seiner Gedichte u.a. in die Schilderung einer nach Alaska führenden Reise
einbettete, sowie der im Westerwald lebende Lyriker Andreas Noga, der mit einer
hochamüsanten, lakonisch-verschmitzt vorgetragenen Gedichtmontage für
Lachsalven sorgte.





Eingebettet in das die verschiedensten Facetten
deutschsprachiger Lyrik vorstellende Programm war die Präsentation des
„deutschen Lyrikkalenders 2010“, aus dem Breuer genauso Gedichte ausgewählt
hatte wie aus Karl-Otto Conradys umfassender Gedichtsammlung „Der Große
Conrady“. Shafiq Naz, der unermüdliche Herausgeber des Lyrikkalenders (den er
seit 2005 nicht nur für den deutschen, sondern auch für den
angloameri-kanischen, französischen, italienischen und spanischen Sprachraum
ediert), der mit seiner Gattin, der Künstlerin Bilqis Naz, ebenfalls unter den
Gästen anzutreffen war, betonte im Gespräch im Anschluß an die Veranstaltung:
"It was a great event – congratulations to Theo Breuer and Jürgen and
Mechthild Krüger.“ Letztere verwöhnten in der Pause und nach dem Programm mit
Speis und Trank, so daß die Gäste sich wie zuhause fühlten und bis weit nach
Mitternacht über Lyrik und andere Dinge sprachen.





Auch Axel Kutsch („Das war wirklich eine rundum gelungene
Veranstaltung: Theo Breuers Vortrag, die Musik, das Ambiente – alles vom
Feinsten“) und Markus Peters, beide wie Noga und Breuer im als Tischkalender gestalteten
„Lyrikkalender 2010“ vertreten, schienen mehr als zufrieden mit dem Erlebten
und bewiesen durch ihre lange Anwesenheit, wie beeindruckt sie vom ganzen
künstlerisch-lyrischen Atmosphäre waren.





Karl Vermöhlen, der neue Sistiger SPD-Ortsvorsteher und
stellvertretende Bürgermeister der Gemeinde Kall, der mit Gattin Sigrid der
Einladung gern gefolgt war und zum erstenmal überhaupt einer Lyrikveranstaltung
beiwohnte, war schier überwältigt ob der Macht, die die lyrischen Wörter auf
ihn ausübten. Wie er bediente sich die Mehrzahl der Gäste im Anschluß an den
beiden Büchertischen, wo sie Titel wie „Der deutschen Lyrikkalender“, „Aus dem
Hinterland. Lyrik nach 2000“, „Nacht Schicht“ oder „Wortlos und andere
Gedichte“ erstanden.





Der Verfasser dieser Zeilen gehörte – wie die bereits
erwähnten Autoren und Herausgeber oder die in Mülheim an der Ruhr und Berlin
lebende japanische Künstlerin Inoue Hiroko – zu den Gästen, die bis zu 200
Kilometer angereist waren, um an einem außergewöhnlichen Lyrikabend im Herzen
der Eifel teilzunehmen, und weit nach Mitternacht die Besucher beneidete, die,
wie alle offensichtlich beseelt und zufrieden, zu Fuß nach Hause gehen konnten.





Dieser mit langanhaltendem Beifall beendete, eintrittfreie
Lyrikabend am 7. November 2009 in Sistig/Eifel, der eindrucksvoll belegt, wie
lebendig Literatur im kulturell zumeist unter Ausschluß der Öffentlichkeit
wirkenden Hinterland gelebt wird (der ebenfalls in der Eifelgemeinde Kall
lebende Norbert Scheuer hat mit „Überm Rauschen“ als Finalist beim Buchpreis
2009 allerdings für einigen Wirbel im bundesdeutschen Blätterwald gesorgt), ist
laut Auskunft der Gastgeber Auftakt zu der künftig wenigstens einmal im Jahr
stattfinden-den „Lyrik im kleinen Kreis". Man habe mit Theo Breuer bereits
entsprechende Vorgespräche geführt. Ein gelungener Auftakt, der so richtig Lust
auf Lyrik macht – weit über den Abend hinaus.
In der Bedeutung des Lehnworts aus dem Französischen, wo der "amateur d' art" den kenntnisreichen, enthusiastischen Liebhaber der Künste meint, bin ich ein Dilettant.