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DiJae

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Dienstag, 2. November 2004, 13:50

Otherland - Die Stadt der goldenen Schatten

Inhalt: Ende des 21. Jahrhunderts: Die reichsten und mächtigsten Männer und Frauen haben ein gigantisches Netzwerk geschaffen. In dieser virtuellen Welt wollen sie sich den ältesten Menschheitstraum erfüllen: das ewige Leben. Gleichzeitig fallen überall auf der Welt Kinder in ein rätselhaftes Koma. Nur wenige Menschen erkennen einen Zusammenhang zwischen dem Netzwerk und dem Zustand der Kinder. Eine Gruppe von Abenteurern macht sich auf, um das Geheimnis von Otherland zu ergründen und begibt sich damit in ungeahnte Gefahren.

Tad Williams gigantischen Epos Otherland vergleicht manch einer gerne schon mit Tolkiens Herr der Ringe, wobei gerade Fantasyfundamentalisten ihre Schwierigkeiten mit der futuristischen Netzerzählung haben dürften. Was übrigens auch die teils von sichtlicher Abscheu geprägten Kommentare mancher Leser zeigen. Otherland präsentiert sich im Gegensatz zur ‚homogenen’ Welt von Tolkien grenzen- und dimensionslos, im Gegensatz zur altmodischen Mittelerde wie eine faszinierende, aber auch beängstigende Zukunft mit unbeschränkten Möglichkeiten und einer Entfremdung des Menschen von der Realität. Und da die Netzwelt in Otherland so unbeschreiblich ist, läßt Williams die Figuren in seinem Roman diese auch stellenweise mit einer unbekannter Sprache ausschmücken.

Otherland in Buchformat bringt es im Deutschen auf über 3500 Seiten. Otherland als Hörspiel wird es zum Schluss auf 24 Stunden bringen und über 250 Sprecher zu Wort kommen lassen. Die Produktion des Hörspiel läuft seit dem 19. Januar 2004 in den Studios des hessischen Rundfunks. Die Zahlen, die hinter der Produktion stehen, scheinen genauso phantastisch wie die literarische Vorlage. Aber wie Der Herr der Ringe als nicht verfilmbar galt, so könnte man bei einer nicht messbaren Welt wie der in Otherland Beschriebenen denken, dass sie auch nicht vertont werden kann. Doch für die Umsetzung konnte man einen der bekanntesten deutschen Hörspiel-Regisseure gewinnen. Walter Adler, Mitglied der Deutschen Akademie der Künster, kann auf einen Erfahrungsschatz von über 200 Hörspielen zurückgreifen und hat 1995 bereits einmal beim ersten Radiotag bei der sechszehnstündigen Sendung Der Krieg geht zu Ende mit einer Stimmgewalt von 250 Stimmen gearbeitet.

Allerdings mußte auch Walter Adler beim Otherland-Projekt komprimieren. Auch wenn 24 Stunden ein unglaublicher Zeitraum für ein Hörspiel sind, so fallen dennoch viele Szenen aus dem Buch dem Schnitt zum Opfer. Hörer, die nicht vertraut sind mit der Buchvorlage, werden so an einigen Stellen ins Grübeln kommen. Als Paul Jonas plötzlich von dem kleinen Jungen Gally zu den verlorenen Kindern geführt wird, fragt man sich, wo dieser Junge auf einmal herkommt. Nur nebenbei wird erwähnt, dass Paul Jonas von dem Kind in einer Herberge aufgelesen wurde. An dieser Stelle ist der Schnitt deutlich mißglückt. An anderen Stellen merkt man die Kürzungen wenn dann nur unbewußt, weil die Handlung sehr schnell springt und etwas hektisch wirkt. Problematisch ist allerdings, dass der Hörer - besonders wenn er sich mit dem Thema Cyberspace wenig oder gar nicht auseinandergesetzt hat - in eine Welt hineingeworfen wird, die bis zum Ende der sechsten CD unerklärt und daher unverständlich bleibt. Hier fehlt der didaktische Zug, den die Lehrstunden von Renie Sulaweyo für ihren Schüler !Xabbu darstellen.

Vielleicht sind dies auch die einzigen Schwachstellen bei der Vertonung. Von der Atmosphäre her kann Otherland sich sicherlich hören lassen. Die verschiedenen Handlungsstränge mit ihren verschiedenen Protagonisten haben auch alle ihren eigenen Erzähler bzw. ihre eigene Erzählerin zugewiesen bekommen. Jeder Strang bekommt so seine eigene Identität, seinen eigenen Charakter, seine unverwechselbare Atmosphäre. Die bedrohlichen, ungewöhnlichen Abenteuer von Paul Jonas, dem Soldaten, dessen erinnerungsloses Erwachen im ersten Weltkrieg das Hörspiel eröffnet, wechseln sich ab mit der menschlichen Tragödie der Computerspezialisten Renie Sulaweyo, die zusammen mit ihrem Schüler !Xabbu aufzuklären versucht, warum nicht nur ihr jüngerer Bruder Stephen, sondern auch andere Kinder überall auf der Welt in ein Koma fallen. Und begibt sich dabei in größe Gefahr, da sie sich mit den mächtigsten Männern in der diesseitigen und der virtuellen Welt anlegt. Dann gibt es noch den todkranken Jungen Orlando, der in der Netzwelt als Barbar Thargor zusammen mit seinem Gefährten Pithlit die goldene Stadt entdeckt, in der realen Welt aber mit der Erkenntnis, dass sich hinter Pihtlit kein Junge, sondern das Mädchen Sam steckt, zurecht kommen muss. Und dann ist da noch das kleine Mädchen Christabel, das auf einem Militärstützpunkt lebt und dort in dem wundersamen, scheinbar uralten Herr Sellars einen merkwürdigen Freund gefunden hat.
Als ‚klare’ Antagonisten präsentiert sich die Gralsbruderschaft, eine Organisation, die in der virtuellen Welt als ägyptische Gottheiten auftritt, in der realen Welt von Felix Jongleuer angeführt wird. Ihm zur Seite steht der Mörder Dread.
Die Vielzahl der Figuren wird durch die verschiedenen Sprecher imposant ins Leben gerufen. Hierbei hat man das Gewicht auf bekannte Namen und Erfahrung gesetzt. Matthias Habich, Ernst Jacobi, Sophie Rois, Sylvester Groth oder Andreas Fröhlich sind sicherlich keine Unbekannten. Aber auch die anderen Sprecher stehen fast ausschließlich nicht zum ersten Mal im Studio.
Die Musik für das Hörspiel, welche recht ‚zurückhaltend’ eingesetzt wird, hat Pierre Oser geschrieben, der u.a. auch schon an Hörspielen wie Esau (von Philipp Kerr) und 20.000 Meilen unter dem Meer mitwirkte.
Die Geräuschkulisse ist dem Thema angemessen. Bei Paul Jonas im Krieg vernichtend, in der Netzwelt manchmal kalt und steril, häufig vertraut, aber dennoch fremd. Futuristisch, aber nicht ohne Gegenwartsbezug.

Otherland ist sicherlich ein sehr interessantes Hörspiel, das aufgrund seiner Komplexität aber nicht jedem zu empfehlen ist. Die sechs CDs lassen sich nicht einfach nebenbei hören, sondern verlangen einiges an Konzentration. Aufgrund der erwähnten Kürzungen wird es außerdem unumgänglich sein, auf die Bücher zurückzugreifen, um Unklarheiten im Ansatz aus dem Weg zu schaffen. So scheint mir die Vertonung eher für die Hörer geeignet, die das Buch schon gelesen haben und einfach gespannt sind, wie die Phantasie Tad Williams als Hörspiel ‚ausschaut’. Der jungfräuliche Hörer hingegen wird ein wenig zu sehr ins kalte Nass gestossen, so dass das Hörspiel nicht für sich stehen kann, dafür aber sicherlich das Interesse an der Saga weckt. Hilfreich bei manchen Verständnisproblemen dürfte neben den umfangreichen Informationen im Booklet außerdem das extra zum Hörspiel eingerichtete Webfeature sein.
Wer sich hingegen über Cliffhanger ärgert und eine abgeschlossene Erzählung erwartet, sollte warten, bis alle vier Bücher ihren Weg in den Katalog des Hörverlags gefunden haben. Der Frust könnte sonst nach den ersten sechs Stunden groß sein.

Original Rezension + Wertung gibt es hier!
Inzwischen Vater und zuende studiert. Altert seitdem rapide. Braucht Zellaktivator.

maltin

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Dienstag, 8. November 2005, 10:01

Gelungener Auftakt eines Mammutprojektes 22. Juli 2005

"Im Schlamm fing es an." Dies ist der Beginn eines Mammutprojektes, das wohl schon jetzt seinen Platz in der kleinen feinen Geschichte des Hörspiels gefunden hat. Gleich zu Beginn wird der Zuhörer ohne auch nur die Chance auf einen geruhsamen Einstieg zu haben hineingerissen in den Strudel der verwirrenden Ereignisse. Die Eröffnungsszene auf dem Kriegsschauplatz - zwischen Bombenexplosionen und Menschengeschrei - jagt einem einen ersten Schauer über den Rücken und lässt bereits erahnen, was einen erwarten wird. Sicherlich keine leichte Unterhaltung, dafür ist die Erzählstruktur von Otherland mit seinen unterschiedlichen Handlungssträngen viel zu komplex verwoben.

Doch den Machern - sicherlich allen voran dem Regisseur Walter Adler - ist es in einer kaum vorstellbaren meisterlichen Art gelungen, diese Handlungsebenen zwischen virtuellem Raum und Realität durch eine klug erdachte Abtrennung mittels unterschiedlicher Sprecher zu bewältigen. Das ganze ist sicherlich beim ersten Hören ohne Kenntnis der Williams-Bücher etwas schwer nachzuvollziehen und hier lohnt es sich mal wirklich den gesamten ersten Teil (!es folgen noch drei weitere!) mehrmals anzuhören. Dennoch schafft es die teilweise wirklich als herausragend zu lobende atmosphärische Gestaltung der unterschiedlichen Szenerien (ich denke beispielsweise an die famosen "Zufallssprünge" von Reenie oder das wilde Geschehen im "Treehouse") im Verbund mit den ebenfalls lobenswerten Erzählleistungen der Sprecher der Verwirrung Einhalt zu gebieten und den roten Faden in der Story immer wieder zu finden. An sich gilt ein Extralob allen beteiligten Sprechern, wobei mich allen voran Sophie Rois als Reenie absolut begeistert hat.

Im Zusammenhang vor allem mit der Sinclair 2000 SE-2, dem Pfähler, kam die Diskussion um Quantitätsansprüche auf. Diese muss sich bei einem Hörspiel, das als eines der größten Projekt der Hörspielgeschichte sicherlich oft genug betitelt worden ist, im Hinblick darauf auch stellen. Doch im Unterschied zum Pfähler klotzt dieses Mammutprojekt nicht nur mit vielen hochkarätigen Sprechern und einem unglaublichen Aufwand, sondern hält dem quantitativen Ansagen qualitativ stand. Und genau das macht Otherland zu einem unbedingten Must-have. Ich verwende dieses Wort ja oft genug, aber wer sich auch nur ein bisschen mit Hörspielen beschäftigt, der darf sich Otherland einfach nicht entgehen lassen. Wenn es fünf Punkte mit Sternchen gäbe, dann wären sie hier angebracht. Hut ab vor allen Beteiligten und ich freue mich auf die blauen Flüsse.
"Es ist nicht wichtig ob man gewinnt, sondern dass man gewinnt." (Helge Schneider)